Gotha — Bahnhofstraße
Die Straße der Versicherungen
Wer in Gotha kennt sie nicht, die Bahnhofstraße mit ihren beeindruckenden Gebäuden. Wie selbstverständlich werden sie beim Durchfahren oder Durchlaufen wahrgenommen, es ist eben eine „schön bebaute Straße“. Doch es lohnt sich, in dieser Straße der Versicherungen auf einem Spaziergang einmal genauer hinzusehen und den geschichtsträchtigen Bauwerken nachzuspüren.
Von der Stadt kommend beginnt die Bahnhofstraße am Marstall, beim Schnittpunkt von Mozartstraße, Schöner Allee, Friedrichstraße und Parkallee. Das erste Gebäude auf der rechten Seite (Haus-Nr. 2–4) wurde 1849 nach einem Entwurf von Hofbaurat Gustav Eberhard errichtet, der zuvor in ähnlichem Stil bereits die Gothaer Feuerversicherungsbank 1841 auf dem Gelände der heutigen Hauptpost erbaut hatte. Es nahm 1850 als Direktionsgebäude der Gothaer Lebensversicherungsbank den Betrieb auf.
„Bei dem starken Anwachsen des Personals erwiesen sich jedoch auch diese Räume zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als nicht mehr ausreichend. Zum Glück war damals ein dem Bankgebäude schräg gegenüberliegendes Grundstück verkäuflich, auf dem Emminghaus einen großen, für lange Zeit voraussichtlich genügenden Neubau zu errichten vorschlug“, schrieb Generaldirektor Karl Samwer in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Lebensversicherungsbank 1927.
Das stattliche, von Bruno Eelbo konzipierte Haus Nr. 3a wurde 1893–1894 gebaut und im November 1894 bezogen. Doch schon bald reichte auch dieses nicht mehr aus, und erst ein Anbau des Münchener Architekten German Bestelmeyer konnte ab März 1923 das Platzproblem lösen helfen. Das aufwändig renovierten Hauptgebäude ist heute Sitz des Thüringer Finanzgerichts und des Sozialgerichts Gotha, der Anbau wird als Seniorenresidenz genutzt.
Als die Gothaer Lebensversicherungsbank 1946 endgültig das Gebäude räumen musste und ihren Sitz nach Göttingen verlegte (in der Sowjetischen Besatzungszone waren Privatversicherungen nicht mehr erlaubt), übernahm die Staatliche Versicherung der DDR das Gebäude (zu deren Historie siehe unter “Extras/Staatliche DDR”) und blieb dort bis zum Rückkauf durch die Gothaer Versicherungen Anfang der 1990erJahre.
In den früheren Direktionsräumen der Lebensversicherungsbank besteht seit 2009 das „Deutsche Versicherungsmuseum Ernst Wilhelm Arnoldi“. Fast „mittendrin in der Straße der Versicherungen“ gelegen, gäbe es dafür wohl keinen besseren Platz als genau an dieser Stelle, denn die Geschichte der früher hier vertretenen Versicherungsgesellschaften wird nicht von ungefähr dort mit ausgestellt.
Weiter auf der rechten Seite folgt mit der Haus Nr. 6–8 das 1955 eingeweihte Wirtschafts‑, Seminar- und Wohngebäude der damaligen Fachschule für Finanzwirtschaft, die im Haus Nr. 12 eröffnet wurde, nachdem dieses Haus der Feuerversicherungsbank nach einem Bombentreffer gegen Kriegsende dann im Jahr 1952 zumindest mit historischer Fassade wiederhergestellt war. In dieser Fachschule war auch ein Zweig für Versicherungswissenschaft vertreten. Zum 30jährigen Bestehen erhielt sie im September 1982 den Namen des damals kurz zuvor verstorbenen Finanzministers der DDR Willy Rumpf. Dies kann mit der Schulbezeichnung groß am schmucklosen Haus auf alten Fotos nachgelesen werden.
Seit 1991 firmiert diese Fachschule als „Bildungszentrum der Thüringer Landesverwaltung“, in der auch eine Verwaltungsfachhochschule mit vertreten ist und die ihren Sitz im vorletzten Haus auf der rechten Seite (Nr. 12) hat. Es wurde ab 1872 für die Gothaer Feuerversicherungsbank von Ludwig Bohnstedt konzipiert und 1875 bezogen. Ein Anbau Richtung Westen konnte dort 1902 nach Plänen des Gothaer Architekten Alfred Cramer in Betrieb genommen werden.
Das Eckhaus zur Bebelstraße (Bahnhofstraße Nr. 14) gehörte dem Bankbevollmächtigten der Feuerversicherungsbank Julius Nagel. Er hatte möglicherweise dafür gesorgt, dass sich die Feuerversicherung auf dem freien Gelände neben seinem Grundstück niedergelassen hatte.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schließlich findet sich das Haus Nr. 5a, jetzt Teil des Bildungszentrums. Bohnstedt hat auch dieses Verwaltungsgebäude ab 1872 für die „Deutsche Bodencreditbank“ errichtet. Es kam
1934 in den Besitz der Gothaer Leben, die es der Tochtergesellschaft Gothaer Allgemeine Versicherungsbank AG zur Verfügung stellte. Diese hatte bei Gründung 1924 zunächst ihr Domizil im bereits erwähnten Erweiterungsbau des Hauses Nr. 3a, mit Kurt Jannott als einzigem “Leitendem Vorstandsmitglied”.
Etwas am Rand dieser „Straße der Versicherungen“ steht die ehemalige Generalagentur der Feuerversicherungsbank, an der Ecke Bahnhofstraße/Bebelstraße weiter rechts gelegen. Mit viel Liebe zum Detail erbauten die Berliner Architekten Erdmann & Spindler 1887–1888 diesen roten, ansehnlichen Klinkerbau in der Bebelstraße Nr. 10. Er zählt heute wie die zuletzt beschriebenen Gebäude in der Bahnhofstraße zum „Bildungszentrum der Thüringer Landesverwaltung“.
Mit zum Ensemble von Versicherungsgebäuden um die Bahnhofstraße herum gehört auch noch das Haus Mozartstraße Nr. 5, das auf Höhe der Rückseite des mächtigen Lebensversicherungsgebäudes Nr. 3a zu finden ist. Die “Villa Glenck” wurde 1849 von dem bereits erwähnten Gustav Eberhard umgebaut. In ihr wohnte später bis 1920 der Generaldirektor der Lebensversicherungsbank Karl Samwer (daher auch der verbreitete Name “Samwer-Villa”).
Literatur:
- Koch, Peter, “Samwer, Karl August Friedrich” in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 412–413
[Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn132051907.html - o.V.: Drei Jahrzehnte im Dienste sozialistischer Finanzwirtschaft. In: Sozialistische
Finanzwirtschaft. Zeitschrift für das Kredit- und Finanzwesen der DDR. Berlin, Heft 10/1982. - Samwer, Karl: Hundert Jahre Gothaer Lebensversicherungsbank auf Gegenseitigkeit 1827–1927. Gotha 1927
- Wenzel, Matthias: Feuerbank wurde zur Finanzschule. Haus I des BZ der Steuerverwaltung Bahnhofstraße 12.
In: Thüringische Landeszeitung/Gothaer Tagespost vom 24.4.2004
© Text und Fotos/Repro: Horst Gröner (2015)